“Ein Überfall der Staatsgewalt”

Von Dieter Wild

Vor fünfzig Jahren wollte die bundesdeutsche Regierung ein kritisches Medium mundtot machen. Die Attacke schlug fehl. Die Freiheit der Presse wurde gesetzlich gestärkt. Was war, was ist geblieben?

Mit etwas Zynismus hätten wir, die Spiegel-Redakteure des Herbstes 1962, stolz sein müssen auf das, was der Ermittlungsrichter beim Bundesgerichtshof uns zutraute: Wir hätten Artikel veröffentlicht, “die sich mit wichtigen Fragen der Landesverteidigung in einer Art und Weise befassten, die den Bestand der Bundesrepublik sowie die Sicherheit und Freiheit des deutschen Volkes gefährden”. Wer konnte das schon von sich sagen.

Aber nach Stolz über so viel angebliche Macht war uns damals gar nicht zumute. Eher waren Beklemmung, Frustration und Zukunftsangst die vorherrschenden Gefühle in der Redaktion. Was Wunder! Denn eine geballte Streitmacht aus Bereitschaftspolizei, Kriminalbeamten und Staatsanwälten hatten in der Nacht des 26. Oktober den Spiegel gestürmt, die Redaktionsspitzen festgesetzt, die Redakteure exmittiert und die Redaktionsräume versiegelt. Wir waren aller Betriebsmittel beraubt: keine Schreibmaschine mehr, kein Blatt Papier, kein Buch, kein Archiv, kein Telefon. Hätten damals nicht der Stern und Die Zeit, im gleichen Pressehaus ansässig, mit Räumen und Material geholfen, wäre der nächste Spiegel nicht erschienen und womöglich das damals gerade erst 15 Jahre alte deutsche Nachrichtenmagazin an sein vorzeitiges Ende gekommen.

Angeklagt wegen Landesverrats

Der Vorwurf des Landesverrats und der landesverräterischen Fälschung war, mitten im kalten Krieg zwischen Ost und West, ein Verbrechen, wie es ehrenrühriger nicht sein konnte. Mit Landesverrätern, das wusste man noch aus Nazi- und Kriegszeiten, musste kurzer Prozess gemacht werden. Und so zeigte denn der große Schlag gegen den Spiegel in den Augen des Publizisten Sebastian Haffner, eines ehemaligen Oberlandesgerichtsrats, nicht “das Gesamtbild … eines rechtsstaatlichen Verfahrens, sondern eines von Vernichtungswillen getragenen kriegsmäßigen Überfalls der Staatsgewalt auf missliche Staatsbürger, wie es den Deutschen aus der nationalsozialistischen Zeit geläufig ist”.

Die Bundesrepublik der frühen 60er Jahre war ein mit sich selbst zufriedenes, fast möchte man sagen, ein glückliches, wenn auch etwas muffiges Land. Zwar hatten die Deutschen die Katastrophe der Nazizeit und des Zweiten Weltkriegs noch keineswegs verarbeitet. Alte Nazis waren noch in Scharen vorhanden, und die deutsche Einheit verloren. Doch eine im Ganzen geglückte Verfassung garantierte Rechtsstaat und Demokratie, und gegenüber dem bösen Kommunismus schützte uns das große Amerika.

Es ging um nichts weniger als die Pressefreiheit

In diese Idylle schlug, Jahre bevor die 1968er Revolte die alten Autoritäten in Frage stellte, die Aktion gegen den Spiegel wie ein Blitz ein. Die Affäre ist, auch 50 Jahre danach, noch der größte Zusammenstoß zwischen Staatsmacht und Pressefreiheit nicht nur in der Geschichte der Bundesrepublik, sondern der gesamten westlichen Welt – und ein Politkrimi allererster Ordnung dazu.

Natürlich war der Spiegel irgendwie systemfremd. Er trat auf als das Kampfblatt gegen die Mächtigen und Machtbesessenen im Land: gegen Parteien, Gewerkschaften, Kirchen, Verbände und Konzerne. Er war, wie Frankreichs Le Monde schrieb, “das Zentralorgan des politischen Nonkonformismus”, respektlos, furchtlos und unnachsichtig gegen Feinde, die er einmal ins Visier genommen hatte.

Zielscheibe Strauß

Strauß- und Rudolf-Augstein-Skizze 1 – © Vanessa Hartmann

Der dankbarste aller Feinde jener Zeit war der von seinen Anbetern als “Vollblutpolitiker” gepriesene CSU-Verteidigungsminister Franz Josef Strauß, ein zwar intelligenter, aber machtbesessener Haudrauf. Seit 1957 hatte der Spiegel ihm in einer ganzen Serie von Artikeln Amtsmissbrauch, Korruption und Protektion seiner Spezies sowie Jagd auf wirkliche oder vermeintliche Feinde vorgehalten. Schon seine ungehemmte Krawall-Rhetorik machten ihn in den Augen des Spiegel-Herausgebers Rudolf Augstein als Minister unmöglich und als potenziellen Nachfolger des über 80-jährigen Kanzlers Konrad Adenauer indiskutabel.

In der Redaktion waren etliche der ewigen Anti-Strauß-Polemik schon müde, als der stellvertretende Chefredakteur Conrad Ahlers und der Bonner Redakteur Hans Schmelz, beide frühere Wehrmachtsoffiziere und jetzt die Militärexperten des Spiegel, zum ganz großen Schlag ausholten. Diesmal ging es nicht um irgendwelche Korruption, sondern um Straußens gesamte Verteidigungsstrategie.

Ahlers und Schmelz hatten Kontakte zu hohen Offi­zie­ren im Ministerium, die eine Grund­linie ihres Ministers für brandgefährlich hielten: Strauß wollte nach eigener Aussage die Bundeswehr mit deutschen Atomwaffen ausstatten, um damit einen unterstellten Angriff des Ost­blocks zurück­zuweisen. Ein solcher Kriegs­fall war in der Nato-Übung “Fallex 62″ am grünen Tisch durchgespielt worden – mit einem streng geheim gehaltenen, vernichtenden Ergebnis für die deutsche Bundeswehr: Sie wäre in kürzester Zeit zusammengebrochen.

Ahlers und Schmelz verarbeiteten die Bedenken der oppositionellen Offiziere und vieler anderer Quellen zu einer großen militärpolitischen und strategischen Analyse, dem Spiegel-Titel 41/1962 vom 8. Oktober. In diesem Titel wollten zwei Gutachter des Ministeriums 41 Staatsgeheimnisse entdeckt haben, die damit verraten worden seien.

Was für Geheimnisse konnten das sein? Der Mehrheit der Redaktion kam die ganze Aufregung etwas künstlich vor, weil ja klar war, dass die USA deutsche Atomwaffen niemals zulassen würden. Mithin war in den Augen vieler der inkriminierte, keineswegs aufregend zu lesende Spiegel-Titel eine Spielwiese für ausgediente oder noch dienende Militärs.

Nicht öffentlich genug

Aber damit hatten wir den Ernst der Lage, in die unser Blatt geraten war, gewaltig unterschätzt. In einer aufwändigen Aktion, für die mehrere Redakteure abgestellt waren, konnte der Spiegel anhand von 30.000 Ausschnitten aus Zeitungen und Zeitschriften zwar nachweisen, dass jedes dieser angeblichen 41 Staatsgeheimnisse schon irgendwo veröffentlicht war, sodass es seinen Geheimnischarakter schon längst eingebüßt hatte. Doch das konnte uns nicht helfen.

Denn nach der damals im Strafrecht geltenden “Mosaiktheorie” konnten auch bereits veröffentlichte Details, “mosaikhaft” zusammengeführt zu einem neuen Gedankenbild, durchaus wieder zum Geheimnis werden.

Eines allerdings machte der ausgesperrten Redaktion dann doch wieder etwas Mut: Wenn mit dem von Geheimnissen berstenden Titel wirklich Landesverrat begangen wurde, musste dies ja aus dem Text allein herauszulesen sein. Warum dann die wochenlange Durchsuchung der Redaktionsbüros, warum die Festnahme der Journalisten, warum die Beschlagnahme von zigtausenden Blatt bedrucktem oder beschriebenem Papier?

Ein Verräter im Ministerium?

Strauß selbst gab die Erklärung: In einem nächtlichen Befehl an den deutschen Militärattaché Oster in Madrid, den in Spanien urlaubenden Spiegel-Mann Ahlers durch die spanische Polizei festnehmen zu lassen, befand er, dies sei “von entscheidender Bedeutung”, damit der Generalbundesanwalt – in Wahrheit vor allem wohl er selbst – erfahre, wer der Verräter im Ministerium sei.

Dieser Hintergrund, ein klarer Anschlag auf die Pressefreiheit, kam erst nach und nach ans Licht. Vorübergehend schien es, dass der hässliche Vorwurf des Landesverrats seine beabsichtigte Wirkung tat.

Augstein-Skizze – © Vanessa Hartmann

Kanzler Adenauer hatte vor dem Bundestag regierungsamtlich festgestellt: “Wir haben einen Abgrund von Landesverrat im Lande.” Und treuherzig meinte er : “Gott, was ist mir schließlich Augstein. Der Mann verdient Geld auf seine Weise. Es gibt Leute, die ihm dabei geholfen haben, indem sie den Spiegel abonniert und Anzeigen hineingesetzt haben.” Einige Anzeigenkunden verstanden die Mahnung und zögerten in den folgenden Wochen, Anzeigen, wie vorgesehen, zu ordern. Sie überlegten es sich allerdings bald noch einmal.

Denn in der deutschen Öffent­lichkeit war ein bis dahin nicht gekannter und seither auch nicht wieder erlebter Sturm der Entrüstung losgebrochen. Wochenlang protestierten an den Hochschulen Professoren und Studenten gegen Strauß und für den Spiegel. In den Zeitungen füllte die Spiegel-Affäre den größten Teil der politischen Seiten, selbst in Blättern, die dem Spiegel nicht grün waren. In der FAZ etwa befand der altkonservative Schriftsteller Friedrich Sieburg: “Eine Freiheitsregung hat sich in unserem Leben bemerkbar gemacht. Sie ist bisher fast immer ausgeblieben, wenn man glaubte, auf sie hoffen zu dürfen. Aber nun ist sie zu spüren.”

Deutsche Bürger nicht mehr brav

Diese “Freiheitsregung”, deren Ursprung oft auf die Studentenrevolte von 1968 datiert wird, hatte in der Tat schon mit dem landesweiten Protest gegen die Nacht- und Nebelaktion gegen den Spiegel begonnen. Der brave deutsche Bürger – das wurde jetzt erstmals deutlich – hatte seinen hergebrachten Respekt vor einer Obrigkeit, die sich einen klaren Machtexzess leistete, weitgehend abgestreift. “Die Staatsgewalt verlor für immer den Schimmer der Unfehlbarkeit”, schrieb Rudolf Augstein.

Selbst im traditionsreichen, bis dahin festgefügten Bollwerk der deutschen Richterschaft zeigten sich erstaunliche Risse. Erstmals in der deutschen Justizgeschichte erlaubte das Bundesverfassungsgericht, dass die abweichende Meinung einer Richterminderheit gleichgewichtig mit der der Mehrheit veröffentlicht wurde. Es war wie das Eingeständnis: Auch wir sind nicht unfehlbar. Vier der Richter hatten eine Verfassungsbeschwerde des Spiegel gegen die gesamte Besetzungs- und Beschlagnahmeaktion abgelehnt, vier sie für berechtigt erklärt. Damit war sie nach dem Gesetz durchgefallen.

Staat muss Kritik ertragen können

Aber: Alle acht Richter hatten festgestellt, dass staatliches Handeln “der ständigen Kritik und Billigung des Volkes” unterlägen sowie dass Pressefreiheit und Staatssicherheit gleichberechtigte Staatsziele seien. Das war schon fast eine Revolution im Denken der bis dahin überwiegend staatsfrommen, konservativen Hoheitsträger.

Und dann erlebte das Land eine weitere juristische Premiere: Am 18. Mai 1965 lehnte das oberste deutsche Strafgericht, der Bundesgerichtshof, einen vom obersten Strafverfolger, dem Generalbundesanwalt, unterschriebenen Antrag auf Eröffnung eines Hauptverfahrens ab: Die Angeklagten Augstein und Ahlers wurden “außer Verfolgung gesetzt. Die Kosten des gegen sie gerichteten Verfahrens werden der Staatskasse auferlegt”.

Da waren die Angeklagten Augstein nach 103 Tagen Untersuchungshaft und Ahlers nach 56 Tagen Untersuchungshaft schon längst wieder frei, die letzten Polizisten nach insgesamt vier Wochen Besetzung aus der Redaktion abgezogen. Den Minister Strauß hatten seine Lügen vor dem Bundestag, er habe mit der Aktion “nichts, absolut nichts zu tun”, um sein Amt gebracht. Er brauchte vier Jahre, ehe er unter der ersten großen Koalition wieder Minister in Bonn werden konnte.

Also hätten wir im Spiegel eigentlich allen Grund gehabt, uns als die Sieger in der großen Schlacht zu fühlen, zumal die Anzeigenerlöse wieder üppiger sprudelten und die Auflage unaufhaltsam in Richtung der Million stieg. Aber von Triumphalismus war in der Redaktion nichts zu spüren, allenfalls von Genugtuung. Zu tief saß der Schock: Polizisten im Haus, Redakteure verhaftet, Räume versiegelt, – niemand hatte das für möglich gehalten. Und mancher zweifelte, ob unsere Militärexperten nicht doch ein zu großes Rad gedreht hätten.

Gesetz: Journalisten keine Landesverräter

Die Spiegel-Affäre erlangte ihre historische Bedeutung Jahre später. Erst das Achte Strafrechtsänderungsgesetz, 1968 von der ersten Großen Koalition verabschiedet, machte den großen rechtspolitischen Fortschritt deutlich, den die Affäre dem Land gebracht hatte: Der publizistische Landesverrat, also die Publikation der zur Aufklärung der Bürger nötigen Staats­geheimnisse, wurde von dem gemeinen Landesverrat abgetrennt. So hatte es Heinrich Jagusch, einer der höchsten deutschen Strafrichter, im Spiegel unter dem Pseudonym “Judex” gefordert. Er befand den § 100 Strafgesetzbuch, der beide Täter gleichsetzte, als “ungerecht, unzulänglich und reformbedürftig”. Seine Argumentation: “Den publizierenden Journalisten, das aus Verantwortungsbewusstsein handelnde grundgesetzliche Organ der öffentlichen Meinungsbildung, stellt er unbesehen neben den verborgen wühlenden Verräter.” Mit der Trennung beider Tätertypen entfiel endgültig auch die obskure “Mosaiktheorie” in ihrer Geltung für Journalisten.

Affäre Teil 2: Cicero 2007

Einmal nur noch leistete sich die deutsche Strafjustiz einen eklatanten Zugriff auf ein Medium – und erhielt sogleich die höchstrichterliche Quittung: Am 27. Februar 2007 erklärte das Bundesverfassungsgericht ein Durchsuchungs- und Beschlagnahmeverfahren gegen die Zeitschrift Cicero für verfassungswidrig, weil es wiederum zum Ziel hatte, einen Geheimnisverräter aufzuspüren, der diesmal im Bundeskriminalamt vermutet wurde.

Geheimnisse waren längst bekannt

An die Bedeutung der Spiegel-Affäre, mit der sie oft verglichen wurde, reichte die Aktion gegen Cicero aber doch nicht heran: Niemand wurde festgesetzt, der Betrieb von Cicero nicht behindert. Und der Vorwurf gegen die Redaktion war nicht der Verrat von Staatsgeheimnissen, sondern die weit weniger anrüchige Anstiftung zur Preisgabe eines Dienstgeheimnisses.

Das Gutachten, das die Aktion gegen den Spiegel mit dem Vorwurf, er habe 41 Staatsgeheimnisse verraten, ausgelöst hatte, erfuhr ein absurdes Schicksal. Es blieb bis Anfang des Jahres 2012 unter Verschluss, wurde dann freigegeben und abermals als “geheim” sekretiert. Und das, obschon zwei hohe Militärs in Gegengutachten die Zahl der angeblich verratenen Geheimnisse längst auf 10 und schließlich auf null reduziert hatten.

Das Elaborat mit den 41 Geheimnissen liest sich wie ein Zertifikat auf die journalistische Qualität des Spiegel-Titels von 1962. Da heißt es nämlich nach 25 Seiten zusammenfassend: “Der Artikel gibt in den meisten Punkten, in denen Geheimnisse der Bundeswehr oder der Nato mitgeteilt werden, bedauerlicherweise(!) zutreffende, d.h. mit der Wirklichkeit übereinstimmende Fakten bekannt.”

Da hätten nun im Spiegel endlich die Champagnerkorken knallen können. Aber die Hauptangeklagten von 1962, Conrad Ahlers und Rudolf Augstein, waren längst tot. Ahlers, der es unter dem Kanzler Willy Brandt noch zum Chef des Bundespresseamts und Staatssekretär brachte, starb 1980, Rudolf Augstein im Jahr 2004.


Dr. Dieter Wild

erlebte als junger Redakteur die Spiegel-Affäre mit. Er war 39 Jahre beim SPIEGEL, zuletzt als stellvertretender Chefredakteur. Heute lebt er im Ruhestand und engagiert sich als Beiratsmitglied von Message.


Beitrag aus

Heft 3/2012


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